Oldenburg /Hannover Das kalte Silber zwickt sie in den Hals. Kurz zuckt sie leicht zusammen. Sie bekommt die ein Kilogramm schwere Königinnenkette umgehängt. In eine der mehr als 30 Plaketten und Embleme ist bereits abgekürzt der Name der Trägerin eingraviert: Ann-Katrin Näther. Die Oldenburgerin wurde am Freitag im Rathaus in Hannover mit den Insignien der Landesschützenkönigin ausgezeichnet.
Blasmusik füllt die weite Eingangshalle aus Sandstein mit der 80 Meter hohen Kuppel. Auf den 40 Stufen der dunkelgrauen Marmortreppe stehen 20 uniformierte Fahnenträger. Auf der einen Seite der Treppe verfolgen Politiker, auf der anderen die Geehrten mit ihren Angehörigen die Zeremonie. Den Rest der Halle füllen Schützen in ihren grünen und grauen Trachten. Dazwischen Ann-Katrin Näther im rot-blauen Karokleid mit der Silberkette. „Ich habe mich in meinem Kleid total unwohl und deplatziert gefühlt“, sagt die 22-Jährige. Eine Tracht besitzt sie im Gegensatz zu ihrer Mutter Roswita Näther nicht. „Schützenfest und diese ganzen Traditionen sind überhaupt nicht meine Welt.“
Doch warum hat die junge Frau dann die Wege zu den Ausscheidungswettbewerben nach Bassum und Hannover auf sich genommen, um sich von der Vereins- über die Kreis- und bis zur Landeskönigin hochzuarbeiten? (siehe Infobox weiter unten) Was motiviert eine junge Frau, doch die Tradition auf ihre Weise fortzuführen?
Mehr als Biertrinken
Die Sonne brennt auf der Haut der Oldenburgerin und der 15 Jugendlichen, Männer, Frauen und Senioren vom SV Tell Wechloy, die sie begleiten. Es ist acht Uhr am Sonntagmorgen. Noch weht ihnen der frische Wind um die Nase. Nur vereinzelte Personen sind auf der Straße unterwegs. Zielstrebig bewegt sich der Tross auf das Rathaus zu.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ Näthers Stimme ist fest und gereizt.
„Was ist denn los?“ fragt ihr Vater Udo Reiners-Näther. Sie deutet auf eine Bierbude.
„Das ist genau der Grund, warum ich Schützenfeste echt hasse.“
„Hm?“
„Weil Schützen so immer nur mit Saufen in Verbindung gebracht werden. Das ist für das Ansehen unseres Sports absolut nicht förderlich“, sagt sie mit Nachdruck.
Die 22-Jährige ist leidenschaftliche Sportschützin. Für sie steht das sportliche Schießen im Vordergrund.
Als sie das Gewehr auspackt, zittert ihre Hand. Nicht vor Aufregung. Die junge Frau hat am Tag zuvor gefeiert. Pling. Der erste Schuss mit dem Luftgewehr landet im Kugelfang. Eine 9. Das geht besser, weiß sie. Auch im nächsten Schuss trifft sie den innersten Ring nicht optimal. Durchatmen. Konzentrieren. Fünf Saisons hat sie für den SV Stoppelmarkt (Vechta) in der Liga-Mannschaft geschossen. Zwei Mal in der Landesliga und drei Mal in der zweiten Bundesliga, der zweithöchsten Wertungsklasse im Sportschießen. Auch bei den Deutschen Meisterschaften in München tritt sie sowohl mit dem Luftgewehr als auch dem Kleinkalibergewehr in der Disziplin Dreistellungskampf jedes Jahr an.
Neue Landeskönigin
Näther legt den Finger auf den Abzug. Sanft verstärkt sie den Druck. Pling. Der achte von 20 Schuss beim Landeskönigsschießen ertönt. 10,8 Ringe zeigt der Bildschirm an. Das geht noch besser: 0,1 Ringe fehlen zum perfekten Treffer. Sie fokussiert sich noch mehr, blendet alles um sich herum aus. Den Bleigeruch, das Rascheln ihrer Konkurrenten, die Gedanken an ihre Arbeit als Europaassistentin bei der Ariane Group, die zu Airbus Space and Defence in Bremen gehört. Sie schiebt die Gedanken an ihr kürzlich bestandenes Abi und die vielen Abende in der Schule beiseite. Sie schaltet ab.
Pling. Auch der nächste Schuss ist wieder eine 10,8. Das bleiben ihre besten zwei Schüsse an diesem Tag. Keiner ihrer Konkurrenten ist besser. Sie wird Landeskönigin. Für diesen sehr guten Schuss bekommt sie lobende Worte. „Das war für mich ein Glücksschießen. Wichtig ist, was bei der Deutschen Meisterschaft rauskommt“, bekräftigt Näther.
Jubel brandet auf der Tribüne auf. Näther beugt den Oberkörper nach unten und schüttelt ihre Hände. Sie sausen nach oben und wieder hinab. Die Plaketten klimpern. Die Männer und Frauen auf den Stufen des Niedersächsischen Landtages nehmen die La-Ola auf und geben sie weiter. Sie flirtet mit dem Publikum, lacht und wirkt trotzdem stolz. Denn Zehntausende Menschen feiern die Oldenburgerin.
Der große Festumzug
In der prallen Sonne läuft sie am Sonntag vom neuen Rathaus in Hannover aus los. Immer der Marschmusik des Musikzugs hinterher. Dem Landeskönigshaus folgen 5000 Schützen und 5000 Musiker sowie historische Gefährte, Karnevals- und Traditionsgruppen. Am Straßenrand tanzen Kinder mit ihren Eltern. Junge Erwachsene sitzen mit Bierdosen in Campingstühlen. Am Fenster eines Wohnhauses steht eine ältere Frau in ihrer Tracht. Näther vermutet, dass sie wohl körperlich nicht mehr in der Lage ist, am Ausmarsch teilzunehmen. Das Warten auf den Festumzug bringt die Generationen zusammen. Genau so wie das Marschieren.
Die Tradition wahren
Beim SV Tell Wechloy wird die Tradition von den älteren Mitgliedern gelebt. „Das ist bei den anderen Vereinen im Oldenburger Schützenbund auch nicht besser“, schildert Ann-Katrin Näther. Nach dem Ausmarsch umarmen eben diese älteren Vereinsmitglieder stolz „ihre Königin“. Nicht nur wegen des einzelnen Glücksschusses und weil sie ihre Tradition fortführt. Sie freuen sich von Herzen über die konstanten Erfolge. Karin Bunjes und Wolfgang Rohe reisen zum Beispiel als Fans mit zu den Deutschen Meisterschaften nach München. Die anderen helfen den jungen Sportlern durch finanzielle Aufmerksamkeiten.
Viele der älteren Vereinsmitglieder kennt Näther bereits, seit sie mit 13 Jahren anfing zu schießen. „Ich bin ihnen sehr dankbar. Ich habe das nicht für mich gemacht, sondern für sie und für unseren Verein.“
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