Frankfurt Oliver Bierhoff hatte die Ärmel seines himmelblauen Hemdes hochgekrempelt und kämpfte ohne Pause in der Länge eines Fußballspiels für Bundestrainer Joachim Löw. Nach seinem Auftritt als Verteidiger des gemeinsamen EM-Kurses vor dem Präsidium des DFB wählte der Nationalmannschafts-Direktor in einer 89 Minuten dauernden Video-Pressekonferenz wie schon als erfolgreicher Stürmer die Offensive. „Es brodelt und rumort immer noch in mir“, gestand Bierhoff 17 Tage nach der „0:6-Blamage“ gegen Spanien und versicherte in einer umfangreichen, mehr als halbstündigen Analyse zum Zustand der Fußball-Nationalelf nur sechs Monate vor dem EM-Start: „Ich spreche nicht als Sprachrohr und Anwalt von Jogi Löw!“
Der enge Vertraute und Vorgesetzte warb dann aber doch sehr eindringlich für den 60-Jährigen, dem er trotz des desolaten Jahresabschlusses in Sevilla für das verflixte Corona-Jahr ein Zeugnis ausstellte, das die von der DFB-Spitze zugestandene EM-Chance 2021 rechtfertige. Für die Arbeitsbewertung könne ein Spiel „nicht der Gradmesser“ sein, betonte Bierhoff, sondern die Leistung in einem Ausnahmejahr: „Es ist ein tolles Ergebnis, das der Bundestrainer unter diesen Herausforderungen erreicht hat.“
Bierhoff selbst hat einen „nachdenklichen“ Löw gehört, als dieser zu Wochenbeginn vor der DFB-Spitze um weiteres Vertrauen in seine Arbeit warb. Dieses war ihm erteilt worden. „Es ist heftig gewesen, was diese Tage passiert ist. Er kann das aber auch schlucken. Die äußerliche Kritik tut natürlich weh, haut aber in dem Sinne nicht um. Viel mehr hat man Wut bei ihm gesehen“, äußerte sich Bierhoff am Freitag über Löws Gefühlswelt und seine Eindrücke.
Der Manager versuchte, mit Grafiken und Tabellen zu belegen, dass die Gesamtentwicklung der „unerfahrenen“ Mannschaft seit dem radikalen Umbruch 2019 mit der Ausmusterung der Ex-Weltmeister Thomas Müller, Mats Hummels und Jérôme Boateng weiterhin stimme. Nach der EM-Qualifikation sei immerhin mit dem Verbleib in der A-Staffel der Nations League ein weiteres wichtiges Ziel erreicht worden.
Einen Freifahrtschein bis zum Vertragsende nach der Winter-WM 2022 bekam Löw von Bierhoff nicht ausgestellt. „Jogi ist lang genug im Geschäft, dass er weiß, dass er am Erfolg und am Vertrauen gemessen wird“, sagte Bierhoff. Es sei in seiner Position „auch die Aufgabe, Alternativen aufzubauen“. Beim DFB-Präsidenten Fritz Keller scheint über die EM hinaus kein Zutrauen mehr in Löw zu bestehen. Von einem „heftigen Streit“ zwischen Keller und Löw mochte Bierhoff aber nicht reden. „Man diskutiert auch mal laut“, sagte er.